Die Krux mit Schulterstützen und Kinnhaltern |
Als Bratschenlehrerin beschäftige ich mich seit 20 Jahren mit der Möglichkeit, Bratsche unter Berücksichtigung der Physiologie zu spielen. Durch meine Erfahrung mit Alexander-Technik und Yoga, entwickelte ich einen geschärften Blick auf alle Winkel und Hebel, die im wahrsten Sinnen des Wortes beim Musizieren «im Spiel» sind. Besonders wurde mir die Wichtigkeit der richtigen Winkel beim Bratsche-, und nebenbei auch Geigespielen, bewusst. Nach einer Jury-Tätigkeit bei Jugend Musiziert auf Regionalebene fiel mir auf, dass nicht wenige, musisch begabte Kinder durch das Nichtrespektieren dieser physiologisch günstigen Winkel in ihrem Fortschritt regelrecht behindert wurden.
Beim Nachfragen fiel mir auf, dass die wichtige Frage des Kinnhalters und die Wahl der Schulterstütze eher empirisch als systematisch getroffen wurde. Nach dem Prinzip, «mach es doch so wie ich» und jedem Schüler die selben Hilfsmittel zu verpassen, die man selber als Lehrer (wenn auch erfolgreich) seit Jahren benutzt, über den Grundsatz, «für Anfänger reichen die billigeren Modelle», bis zum völligen Nichtbeachten/Nichtbesprechen der Thematik, war alles dabei.
Kontaktstelle zwischen Instrument und Spieler
Es gibt einen Ausgangspunkt, der mir sehr wichtig ist. Ich gehe vom Postulat aus, dass die erste Kontaktstelle zwischen Instrument und Spieler der Punkt zwischen Zarge und Schlüsselbein sein sollte, und dass ALLE Hilfsmittel sich danach richten sollten. Von dieser Position aus, die aus der historischen Ausführungspraxis bekannt ist, wo solche «Krücken» nicht benutzt werden, wird klar, dass die Lücke zwischen Schulter und Instrument durch die Stütze, und die Lücke zwischen oberer Zarge und Kinn des Spielers durch den Kinnhalter gefüllt werden sollte. Allein diese Erfordernisse haben schon ziemlich starke Auswirkungen und lassen mehr als die Hälfte der auf dem Markt zur Verfügung stehenden Stützen ausscheiden.
Aus diesen Grundvoraussetzungen ergeben sich folgende Eigenschaften bei der Wahl der Stütze:
Breite:
Die Schulterstütze muss unbedingt in der Breite einstellbar sein, damit sie sich dem Korpus des Instrumentes anpassen kann. Die meisten Stützen auf dem Markt haben diese Möglichkeit, allerdings nicht immer in dem Ausmaß, das ich mir wünsche würde. Die Stelle, an der die Stütze gebogen ist, wird durch Schrauben verstellt, versteift, und es ist nicht egal, ob dies nach rechts oder nach links passiert.
Höhe:
Die Höhe muss auf beiden Seiten unterschiedlich einstellbar sein, und vor allem so konzipiert, dass auch bei der tiefsten Einstellung, die Schraube den Boden des Instrumentes nicht berührt und ankratzt (was sehr oft der Fall ist). Wenn das nicht möglich ist, dann ist der Spieler gezwungen, die Stütze höher zu stellen, als es für ihn richtig wäre.
Biegung:
Die Stützen sind meistens so geschwungen, dass sie im Idealfall perfekt auf der Schulter des Spielers platziert werden können. Allerdings wäre es oft nötig, die Biegung nach rechts oder links zu verlegen, um die Platzierung des Kopfes anzugleichen, je nachdem, ob der Spieler einen mittleren, oder einen links platzierten Kinnhalter benutzten will (siehe unten). Wenn dies nicht möglich ist, neigt der Spieler dann dazu, die Schulter künstlich an der Stütze anzubringen statt umgekehrt, damit alles wieder passt.
Neigung:
Bei vielen billigeren Modellen lässt sich die Neigung überhaupt nicht einstellen. Möglicherweise würde dies den Preis enorm erhöhen; aber ohne diese Einstellmöglichkeit ist die Stütze nicht wirklich nutzbar. Und das aus folgendem Grund:
Das Instrument muss waagerecht gehalten werden, und der Brustkorb des Spielers geht wohl mehr oder weniger vertikal nach unten. Wenn die Stütze also nur parallel zum Boden des Instrumentes angebracht werden kann, entsteht eine mehr oder weniger große Lücke zwischen dem Brustkorb und der Außenkante der Stütze. Der Spieler wird nun versuchen, diese Lücke durch Anheben der Schulter, oder sogar durch das Eindrehen des Unterarms zu füllen, damit er das Gefühl hat, das Instrument sicher zu halten.
Das hat nicht selten die Auswirkung, dass zu viel Spannung in die rechte Schulter kommt und, da der Körper gern symmetrisch arbeitet, diese auch zu hoch gehalten wird. Der Lehrer wird in einem solchen Fall darauf hinweisen, dass die rechte Schulter unten bleiben sollte – wahrscheinlich ohne Erfolg, da der Ursprung der Problematik links zu suchen wäre.
Material:
Die Stütze sollte «gut klingen», natürlich nicht durch sich selbst. Es empfiehlt sich, das Instrument ohne Stütze und Kinnhalter anzuspielen, auch nur auf leeren Saiten. Alle zusätzlich angebrachten Hilfsmittel sollten den Klang so wenig wie möglich beeinträchtigen.
Dieses Experiment ist mit dem Schüler unbedingt durchführen! Es ist erstaunlich, wie viel sich der Klang ändern kann und viel von seiner «Freiheit» verlieren kann.
Deswegen halte ich wenig von Kunststoff-Stützen (z.B. Kuhns, Pacato) und bevorzuge Stützen aus Holz oder Karbonfaser.
Einige auf den Markt erhältliche Stützen und ihre Vorteile/ Nachteile
Kuhn Künstler:
gute Stütze aus Holz und leichtem Schaumstoff-Überzug, lässt sich in Neigung, Breite und Höhe einstellen (ca. 80,-€).
Pedi Carbon:
meine jetzige Stütze, sehr leicht, klanglich ohne erkennbaren negativen Einfluss auf das Obertonspektrum (ca. 80,-€).
Augustin:
lässt sich leider nicht neigen, klingt aber schön und ist sehr leicht (ca. 60,-€).
Pirastro:
aus Holz, persönlich formbar, diese sehr teure Stütze habe ich noch nicht persönlich getestet, sie ist aber sehr leicht, und klingt hervorragend (ca. 300,-€).
Mittig platzierte Kinnhalter
Als kleine Person, die schon immer Bratsche gespielt hat, kam ich recht schnell darauf, dass ich durch einen Kinnhalter, der über dem Saitenhalter platziert ist, (kurz: einen mittleren Kinnhalter), leichter und gerade zur Spitze gelangen konnte, als mit einen links platzierten Kinnhalter (kurz: Linkskinnhalter). Es gibt auch die halbe Variante, wo der Kinnhalter zwar noch über den Saitenhalter hinüber geht, aber die Wanne dennoch auf der linken Seite bleibt. Je nach Körpergröße und Instrument empfehle ich linke, halbmittige oder mittige Kinnhalter.
Je kleiner der Spieler und je größer das Instrument, desto mehr wird der Musiker von einem mittigen Kinnhalter profitieren. Meiner Erfahrung nach haben auch große Instrumentalisten sehr positive Auswirkungen auf ihr Spiel erfahren, nachdem ich ihnen zu einem mittigen Kinnhalter geraten hatte. Ich bin inzwischen eine klare Verfechterin der mittigen oder halbmittigen Kinnhalter.
Form und Klang
Die Form muss vor allem an das Kiefergelenk des Spielers gut angepasst sein, sollte nirgendwo harten Kanten aufweisen, und insgesamt eine weiche, ovale Auflagefläche bieten.
Manche Kinnhalter haben einen Buckel und dahinter eine Art Wanne. Das ist problematisch, weil diese Eigenschaft viele Spieler dazu verführt, den Kopf zu weit vor zu strecken, um mit dem Kinn den Buckel zu erreichen, und dann den Kopf dann wieder zurück zu ziehen, was eine starke Nackenspannung zur Folge hat. Deswegen plädiere ich für Modelle, die eine relativ flache Form, keine so tiefe Wanne und einen weichen Kantenverlauf haben – dies natürlich unter Berücksichtigung der jeweilige Kieferform. Wichtig ist natürlich auch hier, dass der Kinnhalter aus gut klingendem Material ist, da er eine größere Kontaktfläche mit dem Instrument hat.
Einige Anfänger-Kinnhalter sind aus Plastik, davon halte ich wenig.
Es gibt einen Kinnhalter von der Firma Wittner, der aus einem ziemlich angenehmen Plastik besteht, allerdings ist er klanglich einem Holz-Kinnhalter nicht ebenbürtig. Das Modell hat aber den Vorteil, dass es sich in der Höhe und Neigung einstellen lässt.
Physiologische Besonderheiten
Viele junge heranwachsende Spieler haben lange Hälse. Ihnen werden, wegen der geringen Auswahl an hohen Kinnhaltern, oft zu hohe Stützen empfohlen, was erhebliche Auswirkungen auf ihre Technik, Bewegungsfreiheit und klangliche Entfaltung hat.
Für die Spieler mit langen Hälsen ist es unabdingbar, einen Kinnhalter zu wählen, der in der Höhe einstellbar ist, was leider noch relativ selten anzutreffen ist.
Neben dem Wittner Kinnhalter, der von der Höhenverstellung her nicht ausreichend sein dürfte, gibt es einen Kinnhalter mit Schrauben, der an der Unterseite platziert ist. Er wird vom Geigenbauer Reiner Wilfer produziert, kann aber auch bei anderen Geigenbauern bestellt werden. Auf den Online-Plattformen habe ich ihn aber noch nicht gefunden. Dieses Modell existiert in der mittigen Variante, aber auch halb mittig und vielleicht auch in der Links-Variante. Verschiedene Hölzer sind im Angebot.
Um die richtige Höhe zu bestimmen messe ich wie folgt: Der Spieler legt das Instrument in seinem üblichen Spielwinkel auf sein Schlüsselbein. Dann dreht er den Kopf leicht nach links, ohne den Kopf zu neigen (also wie bei nein sagen). Ich gebe zwei Finger breit Spielraum nach unten. Nach dem «Nein» kommt das «Ja»: der Spieler nickt kurz, immer noch mit der Kopf leicht nach links gedreht, und landet sanft auf dem Kinnhalter, ohne «nachgreifen» zu müssen und ohne den Kopf wieder nach hinten zu ziehen.
Kinnhalterschrauben
Die Kinnhalterschrauben, üblicherweise Doppelgewinde-Schrauben, lassen sich mit den kleinen Metallstiften, die man beim Geigenbauer kaufen kann, gut ein- und ausdrehen.
Allerdings sind sie meistens aus Metall und leiten die Klangschwingungen ziemlich langsam durch. Wer Wert darauf legt, eine schnellere Übertragung zu haben, sollte den Kauf von Titan Schrauben überlegen (ca. 40,-€); die lohnen sich meiner Meinung nach fast immer. Sie sind genauso so leicht zu montieren wie die üblichen Schrauben und bringen auf jeden Fall einen Gewinn für das klangliche Ansprechen, sowohl bei Studenten als auch professionellen Spielern. Aus diesem Grund würde ich mir wünschen, die Kinnhalter-Hersteller würden sich weniger mit allen möglichen anderen Schraubenarten austoben, bei denen es nötig ist, den Werkzeugkasten zu holen, um den Kinnhalter zu montieren oder zu entfernen.
Diese Zeilen sollen eine Orientierung und Entscheidungshilfe sein. Sie können den Blick eines erfahrenen Instrumental-Lehrers natürlich nicht ersetzen. Dennoch hoffe ich, mit diesem Artikel einigen Kollegen, Studenten oder Schülern Anregungen gegeben zu haben.
Interessannte Links:
Die französische Bratschistin Marion Leleu studierte am CNSM in Lyon und später bei Tabea Zimmermann in Frankfurt/Main.
Sie wirkte lange Jahre als Orchestermusikerin u.a. an der Staatsoper Hamburg und an der Kammerakademie Potsdam, aber auch als Gastmusikerin in anderen Ensembles wie dem Chamber Orchestra of Europe, dem Ensemble Modern, der Bayerischen Staatsoper, der Dresdner Staatsoper und der Akademie für Alte Musik Berlin.
Die Bühnenerfahrung, die sie dort gesammelt hat, gibt sie seit 2008 an der UdK Berlin, und seit 2017 an der Hans Eisler Hochschule (Bach Gymnasium ) weiter.
Ihre Leidenschaft gilt der Pädagogik und der psychologischen Unterstützung anderer Musiker, um ihnen zu ihrer bestmöglichen Leistung zu verhelfen.
Ein weiterer Schwerpunkt ihrer pädagogischen Arbeit ist die Bewegungs- und Platzierungsanalyse aus physiologischer Sicht.
Ratgeber Bratsche: Korpusgrösse und Saitenlänge.
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