Niklaus Rüegg - Nach Erreichen des Rentenalters begann Rechtsanwalt Walter Witte (1928-2020), Bratschenunterricht zu nehmen. Bereits als Jugendlicher hatte er Geige gespielt und wollte nun etwas Neues anfangen. Der Klang der Bratsche hatte ihn fasziniert und er entwickelte eine grosse Begeisterung für das Instrument. Häufig lauschte er als Gast im Unterricht von Tabea Zimmermann und knüpfte zahlreiche Kontakte. Er wollte unbedingt etwas Substanzielles für das Bratschenspiel in Deutschland tun und gründete 1994 seine Viola-Stiftung mit Sitz in Frankfurt am Main. Der Schwerpunkt sollte auf der Förderung talentierter Bratschisten und Bratschistinnen liegen. 1996 lancierte er einen Viola-Wettbewerb, der seither im Dreijahresrhythmus durchgeführt wird.
Witte, der im März 2020 starb, hatte sein gesamtes Vermögen der Stiftung vermacht und ermöglichte somit den Umbau seines nationalen Wettbewerbs zur «Hindemith International Viola Competition». Im Oktober 2021 wurde dieser Violawettbewerb im neuen Gewand erstmals durchgeführt.
Ludwig Hampe ist seit 1995 im Vorstand der Stiftung und seit fünf Jahren Vorstandsvorsitzender. Hampe ist Vorspieler der Bratschen (Stimmführer) im Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Er gilt als Barockspezialist, die Viola d’amore ist sein Steckenpferd.
Herr Hampe, gab es in Ihrer Studienzeit auch schon spezifische Fördergefässe für Bratschisten?
Als ich studierte, gab es in Deutschland allgemeine Stiftungen, die begabte Musikstudenten unterstützten, aber keine spezielle Institution mit einem Focus auf die Bratsche. Walter Wittes Stiftung war 1994 die erste dieser Art. Witte, ein begeisterter Hobbybratscher, nahm bei meiner Frau Hiltrud Hampe am «Hoch’schen Konservatorium» Unterricht und sass in Frankfurt oft als Zuhörer in der Hochschulklasse von Tabea Zimmermann. Er war eine Art «Klassen-Opa», völlig begeistert von den Möglichkeiten der Bratsche.
Wie kann man die Persönlichkeit Walter Wittes charakterisieren?
Er war ein absoluter Philanthrop, ein unglaublich gerechtigkeitsliebender Jurist und er hatte einen feinen Humor. Kernaufgabe seines beruflichen Lebens war die Abarbeitung der «Wiedergutmachungsanträge» von Überlebenden der Shoah gewesen. Witte war in den Fünfzigerjahren Mitarbeiter in der Frankfurter Kanzlei des berühmten jüdischen Rechtsanwalts Henry Ormond, welcher den ersten Zwangsarbeiterprozess gegen grosse deutsche Firmen geführt hatte und als Nebenankläger im Auschwitzprozess auftrat. Ormond übertrug Witte das Mandat, sich um Überlebende der Konzentrationslager zu kümmern, eine sehr fordernde und abwechslungsreiche Tätigkeit.
Witte war zudem ein vielseitig künstlerischer Mensch, begabter Zeichner und verhinderter Architekt. Sein Haus auf Ibiza, direkt am Meer, war gebaut nach seinem Entwurf. Im Beiprogramm des Münchner Hindemith-Wettbewerbs hat die Viola-Stiftung 2021 sein graphisches Werk in einer Ausstellung präsentiert.
Wie kommt ein Rechtsanwalt dazu, sich derart für die Viola zu engagieren?
Witte hatte seit 1989 Bratschenunterricht. Er war in den Klang des Instruments verliebt. Am Konservatorium und in der Frankfurter Musikhochschule hatte er gesehen, dass es hervorragende junge Talente gab, die zum Teil keine adaequaten Instrumente zur Verfügung hatten. Witte schrieb sodann Briefe an bekannte Professoren wie Hariolf Schlichtig und Hartmut Rohde, auf der Suche nach sinnvollen Ideen zur Förderung der Viola.
Der Zweck der Viola-Stiftung Walter Witte «ist die Pflege, Förderung und Verbreitung alter und neuer Violamusik mit dem Schwerpunkt der Begabtenförderung». Können Sie sagen, dass Sie dem Stiftungszweck in all den Jahren gerecht werden konnten?
Bei der Gründung hatte die Stiftung ein Kapital von 100'000 Mark. Das war sehr überschaubar. Um überhaupt handlungsfähig zu sein, hat Walter Witte jedes Jahr substanziell zugestiftet. Von Anfang an gab es den Wettbewerb, der alle drei Jahre ausgetragen wurde. Obwohl auf nationaler Ebene angesiedelt, stand der Wettbewerb für alle ausländischen Teilnehmer offen, die mindestens zwei Jahre an einer deutschen Hochschule studiert hatten.
Der Wettbewerb war und ist ein Erfolgsmodell, für die Studierenden attraktiv und von Juroren und den Lehrenden an den Hochschulen geschätzt und anerkannt.
Alternierend führten Sie noch einen Kompositionswettbewerb durch. Wie sieht es damit aus?
Wir hatten, ebenfalls in dreijährigem Turnus, auch einen Kompositionswettbewerb im Programm, der vor fünf Jahren ausgesetzt wurde. Das angestrebte Ziel einer substanziellen Bereicherung des Bratschenrepertoires schien uns 2017 auf diesem Wege nicht erreichbar, keines der bis dahin prämierten Werke hatte die Aufnahme in den erweiterten Kanon der Bratschenliteratur geschafft.
Mit Kompositionsaufträgen hatten wir mehr Glück. Gerhard Müller-Hornbach, der Frankfurter Kompositionsprofessor, hat ein Trio für Bratsche, Klarinette und Klavier geschrieben. Zum 25-jährigen Jubiläum der Stiftung beauftragten wir Garth Knox, ein Stück für Bratsche zu schreiben. Das «Pocket-Concerto» für solistische Viola und begleitendes Cello wurde 2019 in Frankfurt uraufgeführt und ist, bei Schott verlegt, zu einem internationalen Erfolg geworden. Bereits 2020 war es Pflichtstück im Wettbewerb von Amsterdam. Zuletzt hat Atar Arad, Professor in Bloomington, im Auftrag der Viola-Stiftung eine Chaconne für Bratsche solo komponiert, die Pflichtstück beim Internationalen Hindemith Violawettbewerb war.
Ein weiteres aktuelles Projekt zur Erweiterung des Repertoires für Viola: Max Reger hielt Johanna Senfter für seine begabteste Schülerin. In ihrem Nachlass fanden sich insgesamt neun Duos und Trios mit Bratsche. Die Stiftung unterstützt die Veröffentlichung dieser bemerkenswerten Stücke im Schott-Verlag.
Sie sind seit 1995 im Stiftungsrat, also fast seit Beginn mit dabei. Wie hat sich die Stiftungsarbeit bis heute entwickelt?
Wir blicken auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, die auf die Liebe zur Viola und den Elan eines einzelnen Menschen zurückgeht. Die Stiftung war bis vor 10 Jahren quasi ein Ein-Mann-Unternehmen des Stifters. Im Alter von 80 Jahren begann Walter Witte, Stiftungsrat und Vorstand für die Zukunft aufzustellen und selbst in die zweite Reihe zu rücken. Neben mir sind aktuell Prof. Roland Glassl und Charlotte Walterspiel im Vorstand. Zusammen mit dem kompetent besetzten fünfköpfigen Stiftungsrat sind wir dabei, die Stiftungsarbeit zu professionalisieren. Juristische, finanzielle und steuerliche Fragen gehören in die Hände von ausgewiesenen Fachleuten.
Wie wird die Stiftung alimentiert?
Der Stifter ist im März 2020 verstorben und hat sein gesamtes Vermögen der Stiftung vermacht. Dadurch wurde das Stiftungskapital auf einen Schlag vervielfacht. Das ermöglichte es uns, die Chance zu ergreifen, um den für 2020 geplanten Hindemith-Wettbewerb, der wegen Corona um ein Jahr verschoben werden musste, auf eine völlig neue, internationale Ebene zu stellen. Dass der grosse Aufwand sich offensichtlich gelohnt hat zeigt ein Artikel im Magazin «The Strad» vom Januar 2022. Carlos Solare würdigt darin Idee und Ablauf des Wettbewerbes und stellt ihn auf eine Stufe mit den beiden grossen internationalen Bratschenwettbewerben in Großbritannien (Tertis) und USA (Primrose).
Wie viele jungen Bratschistinnen und wie viele Komponisten haben bis heute von der Stiftung profitieren können?
31 Preisträger bei den Bratschenwettbewerben und um die 20 Preisträger bei den Kompositionswettbewerben, die Zahl aller Teilnehmenden dürfte zwischen 400 und 500 liegen Ausserdem konnten wir einige Stipendien an begabte und bedürftige Bratschisten vergeben.
Wie ist die erste internationale Ausgabe des Bratschenwettbewerbs im Oktober 2021 gelaufen?
Den Rahmen bildete eine Kooperation zwischen der Hochschule für Musik und Theater München und unserer Stiftung. Es hatten sich 102 Personen angemeldet. Das internationale Teilnehmerfeld wies zu Beginn einen leichten Schwerpunkt Asien auf. Bei den 20 Endrunden-Teilnehmenden war es dann aber sehr ausgewogen. Das künstlerische Niveau aller Endrundenteilnehmer war extrem hoch.Emiko Yuasa, die erste Preisträgerin, überzeugte musikalisch und technisch in allen Runden, der zwanzigjährige Njord Kårason Fossnes (2. Preis) spielte die Sonate 1939 von Hindemith, als ob er das Stück gerade erfunden hätte. Und die ebenfalls erst 20 Jahre alte Carla Usberti (3. Preis) überzeugte und beglückte Publikum und Jury.
Nennen Sie ein paar Namen von Gewinnern, die später eine erfolgreiche Laufbahn eingeschlagen haben!
Der allererste Preisträger 1996 war Ralf Buchkremer. Er wurde Solobratschist in Düsseldorf. 1999 kam der «Sensationswettbewerb» mit Danusha Waskiewicz und Roland Glassl. Beide haben damals einen ersten Preis zuerkannt bekommen, weil die Jury der Meinung war, zwei absolute Ausnahmebegabungen gehört zu haben. Glassl wurde erst Professor in Frankfurt und ist jetzt Nachfolger von Schlichtig in München. Waskiewicz wurde Solobratschistin bei den Berliner Philharmonikern und ist heute als Solistin und Kammermusikerin weltweit tätig. Viele weitere Preisträger bekleiden zum Teil exponierte Positionen in deutschen Orchestern - bis hin zu den Berliner Philharmonikern.
Seit 1999 lag die Messlatte so hoch, dass es lange dauerte, bis wieder ein erster Preis vergeben wurde: 2017, im letzten Wettbewerb vor Corona, gelang dieses Kunststück Tobias Reifland, der anschliessend zum Solobratscher im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks berufen wurde.
Warum führen sie den Wettbewerb nur alle drei Jahre durch?
Die gesamte Stiftungsarbeit wird bei uns ehrenamtlich geleistet. Deshalb hatten wir bis 2017 bei einem Preisgeld von 10'000 Euro insgesamt lediglich ca. 3'000 Euro an Zusatzkosten pro Wettbewerb. Schon diese Kosten überstiegen damals aber das Budget, das wir zur Verfügung hatten. Das freie Jahr nach Bratschen- und Kompositionswettbewerb diente zur finanziellen Konsolidierung. Denn die Vorgaben der Stiftungsaufsicht besagen, dass das Stiftungskapital nicht angerührt werden darf.
Warum steht der Name Hindemith im Titel?
Es gibt mehrere Gründe. Erstens: Paul Hindemith hat starke Frankfurter Wurzeln, hier ist er zur Schule gegangen. Er hat am Hoch’schen Konservatorium, an dem auch Walter Witte Bratschenunterricht hatte, studiert. Von 1915-1923 hatte Hindemith im Frankfurter Opern- und Museumsorchester die Konzertmeisterstelle inne, bevor er sich ganz dem Bratschenspiel und der Komposition zuwandte.
Ausserdem ist Dr. Susanne Schaal-Gotthardt, die Direktorin des Hindemith-Instituts in Frankfurt, bei uns im Stiftungsrat. Sie verwaltet mit ihrem Institut das musikalische Erbe von Hindemith. Von dort und von der Foundation Hindemith in Blonay erhielten wir die Erlaubnis für die Verwendung des Namens für den Wettbewerb.
Wann und wo wird der nächste Wettbewerb durchgeführt?
Das wird sich in den kommenden Monaten entscheiden. In München lief es reibungslos, ohne Pannen. Es werden aber auch Alternativen in Erwägung gezogen werden.
Wie sieht die Zukunft der Stiftung aus?
Ich bin gespannt, welche neuen Bereiche wir uns zur Abrundung der Stiftungsarbeit erschliessen werden. Wir wollen nicht ausschliesslich Spitzenförderung betreiben und denken über Möglichkeiten der Breiten- und Jugendförderung nach. Ich bin gegenüber kreativen Vorschlägen aus der grossen Bratschengemeinde sehr aufgeschlossen. Wer konkrete Ideen hat, um welche Gebiete wir uns in Zukunft kümmern könnten, darf sich gerne bei mir melden.
International zusammengesetzte Jury mit Atar Arad, Hariolf Schlichtig, Naoko Shimizu, Lars Anders Tomter, Danusha Waskiewicz and Angelika Merkle
Eine Videorunde und drei Liverunden 1. Videorunde: eingeschickte Videos, Schneiden nicht erlaubt. Pflichtstücke: die zweiten und dritten Sätze der Konzerte von Stamitz oder Hoffmeister (nicht die ersten, die meistens gespielt werden). Ein modernes Stück nach eigener Wahl, komponiert nach 1985. 2. Viertelfinale: 2 Sätze, entweder aus einer Suite BWV 1007-1012 oder einer Sonate oder Partita BWV 1001-1006 von Johann Sebastian Bach. Und «In Form und Zeitmass einer Passacaglia» aus der Sonate op. 11 Nr. 5 oder «Thema mit Variationen» aus der Sonate op. 31 Nr. 4 von Paul Hindemith. Pflichtstück Chaconne von Atar Arad. 3. Semifinale: Rezital von 60 Minuten. Pflichtstück Sonate 1939 für Viola und Klavier von Paul Hindemith sowie weitere Werke mit oder ohne Klavierbegleitung. 4. Finale: Wolfgang Amadeus Mozarts «Kegelstatt-Trio» in Es-Dur KV 498 (mit Martin Spangenberg, Klarinette und Angelika Merkle, Klavier) und Paul Hindemiths «Kammermusik Nr. 5 für Viola und größeres Kammerorchester» (Hochschulsymphonieorchester der Hochschule für Musik und Theater München). Ludwig Hampe stammt aus einer Münchener Musikerfamilie. Mit der Geige aufgewachsen studierte er zunächst Kunstgeschichte und Archäologie. 1980 wechselte er an die Freiburger Musikhochschule zum Studium der Viola und Viola d'amore bei Ulrich Koch. Zu seinen Studienkolleginnen gehörten Tabea Zimmermann und Charlotte Walterspiel. Seit 1985 ist Ludwig Hampe Vorspieler der Bratschen im Frankfurter Opern- und Museumsorchester. Außerdem ist er gern gesehener Gast bei führenden deutschen Orchestern in Berlin, Hamburg, München, Bamberg, Köln und Stuttgart. Als Orchestervorstand wirkte er bei der Jungen Deutschen Philharmonie und später im Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, er war künstlerischer Leiter der «Engelthaler SommerSerenade». Auch war er Vorsitzender der Deutschen Viola-Gesellschaft und ist seit 1995 im Stiftungsrat der Viola-Stiftung Walter Witte.