Umgang mit Stressmomenten im Musikeralltag:
Probespiele, Auftritte und alles dazwischen
Anabel Avendaño -
Probespiele gehören wahrscheinlich zu den unangenehmsten Teilen des Musikerlebens und sind dennoch oft der einzige Weg zu bestimmten Chancen. Für viele von uns fühlt sich der Gedanke, einen Raum zu betreten und in nur wenigen Minuten alles zu zeigen, woran wir so lange gearbeitet haben, schlicht überwältigend an. Menschen sagen gern: «Genieß es einfach», «Bleib im Moment», «Mach dir nicht zu viele Gedanken».
Aber wie macht man das eigentlich?
In den letzten Jahren wurde mir klar, dass die üblichen Ratschläge. «stell dir deinen Erfolg vor», «bleib voruhig», «atme einfach» nur dann funktionieren, wenn sie unterstützt werden durch echtes Verständnis.
Was passiert eigentlich mit mir unter Stress? Wie kann ich meinen Körper regulieren? Wie bereite ich mein Nervensystem vor, nicht nur meine Finger?
Die Sportpsychologie verfügt über jahrzehntelange Forschung zur mentalen Vorbereitung, deutlich umfangreicher als das, was wir bisher zur musikalischen Auftrittspsychologie haben. Und die gute Nachricht lautet: Viele der Techniken aus dem Sport lassen sich hervorragend auf unsere Welt übertragen.
Dieser Blog verbindet persönliche Erfahrungen mit wissenschaftlich fundierten Strategien, die mir geholfen haben, in stressigen musikalischen Situationen geerdeter, bewusster und widerstandsfähiger zu werden.
Die eigene Stressreaktion verstehen, bevor man versucht, sie zu «reparieren»
Lange Zeit dachte ich, ich wäre kein nervöser Mensch. Ich zitterte nicht, schwitzte nicht, bemerkte kaum klassische Symptome. Ich konnte vor einem Probespiel ganz entspannt sprechen, doch in dem Moment, in dem ich anfing zu spielen, zog sich mein Kopf zusammen. Negative Gedanken überrollten mich. Ich vermied den Blick zur Jury, weil es sich anfühlte, als würde ich damit die Situation «real» machen. Dadurch trennte ich mich jedoch vom Raum und von mir selbst. Mein Körper verspannte sich, und manchmal fühlte ich mich seltsam taub.
Zu lernen, dies zu erkennen und nicht zu bewerten, war ein Wendepunkt. Auftrittsangst sieht bei jedem anders aus. Manche zittern. Manche frieren innerlich ein. Manche fokussieren übermässig, andere dissoziieren.
Zu wissen, wie Stress bei dir persönlich aussieht,
ermöglicht es dir, früher und wirksamer einzugreifen. Manchmal verwandelt allein dieses Bewusstsein Nervosität in produktive Energie. Ein anderes Mal hilft es einfach, Spannung zu bemerken und ein wenig zu lösen.
Bewusstsein ist das erste Werkzeug der Regulation.
Foto von Nubelson Fernandes auf Unsplash
Visualisierung
In der Musik wird Visualisierung oft erwähnt, aber selten vollständig erklärt. In der Sportpsychologie hingegen zählt sie zu den am besten erforschten mentalen Trainingsmethoden. Studien zeigen, dass mentale Bilder die motorische Koordination verbessern, Angst reduzieren und neuronale Aktivierung ähnlich wie körperliches Üben auslösen können (Moran, 2012; Guillot & Collet, 2008).
Doch entscheidend ist, wie man visualisiert.
Viele Musiker stellen sich nur das perfekte Endergebnis vor. Das ist hilfreich – aber unvollständig.
Wirksamer ist es, zwei Arten von Visualisierung zu kombinieren:
Ergebnisvisualisierung
Stell dir vor, wie du mit dem gewünschten Klang, schöner Phrasierung, freiem Ausdruck und Zuversicht spielst.
Prozessvisualisierung
Hier liegt die wahre Stärke:
Stell dir jeden Schritt vor den Weg in den Raum, die Berührung deiner Hände, den ersten Ton, deinen Atemrhythmus, das Wahrnehmen von Nervosität und deine bewusste Reaktion darauf.
Prozessvisualisierung macht die Situation vertraut. Du gehst nicht ins Unbekannte, sondern in etwas, das du mental schon oft geübt hast.
In Übesessions kann diese Art der Vorstellung das gesamte Üben bereichern. Du spielst nicht nur Noten, du simulierst Klangvorstellung, Intention, körperliche Flexibilität und Reaktionsfähigkeit. Deine Vorbereitung wird bewusster und stärker darauf abgestimmt, wie du unter Druck auftreten möchtest.
Schon 10–15 Minuten täglich können dafür sorgen, dass sich der Probespielraum weniger bedrohlich anfühlt.
Erdung im tatsächlichen Moment
Erdung bedeutet, sich in die Gegenwart zurückzuholen, besonders dann, wenn der Körper innerlich fliehen möchte.
Atemarbeit
Zwerchfellatmung ist eine der einfachsten und zuverlässigsten Techniken. Langsam durch die Nase einatmen, den Bauch sanft nach außen wölben, kurz halten, lang ausatmen, das kann Herzfrequenz und Stressreaktionen messbar senken (Ma et al., 2017).
Ich liebe diese Methode, weil sie unauffällig ist: im Flur, auf dem Weg zum Notenpult oder sogar zwischen den Auszügen.
Sinnesaktivierung
Diese Erkenntnis kam später und hat alles verändert. Die Sinne bewusst einzubeziehen verankert sich im Körper:
- die Wärme einer Tasse Tee spüren
- sanft Hände oder Unterarme berühren
- den Kontakt der Füsse zum Boden wahrnehmen
- während des Einspielens bewusst dem Klang nachspüren
Diese kleinen körperlichen Momente holen dich aus Grübelgedanken zurück ins Hier und Jetzt.
Foto von Tuyen Vo auf Unsplash
Klang als Anker
Unser Instrument ist nicht nur ein Werkzeug, es kann ein werdender Begleiter sein. Ein Einspielen, das auf Resonanz, Atem und Bewegungsgefühl statt Perfektion ausgelegt ist, verbindet Körper und Geist wieder miteinander.
Klang ist einer der direktesten Wege zurück in den Moment: lange Töne, flüssige Tonleitern, bewusste Bogenwechsel, das Spüren der Finger und der Reaktion der Saite an verschiedenen Kontaktpunkten, all das kann den Fokus wieder auf das Musikalisch-Wesentliche lenken.
Mentale Stärke entwickeln
Der Begriff «mentale Stärke» wird häufig missverstanden.
In der Forschung bedeutet er nicht, Gefühle zu unterdrücken oder sich rücksichtslos zu pushen. Sondern:
- sinnvolle Ziele verfolgen
- Resilienz
- emotionale Regulation
- Selbstvertrauen
- Flexibilität
Die größte Falle ist es, sich nur auf bedingte Ziele zu konzentrieren, ein Probespiel gewinnen, die Jury beeindrucken, besser sein als andere. Solche Ziele erzeugen Angst, Vermeidung und Enttäuschung.
Nachhaltiger sind identitätsbasierte Ziele:
- Welche Art von Musiker*in will ich sein?
- Wie möchte ich mich ausdrücken?
- Welche Fähigkeiten brauche ich, um mich auf der Bühne frei und sicher zu fühlen?
- Wie möchte ich meinen eigenen Entwicklungsprozess erleben?
Diese Haltung schafft innere Motivation statt druckgetriebenem Stress.
Foto von Matt Ashby auf Unsplash
Was dabei hilft:
- regelmäßige Audio/Videoaufnahmen
- sich kleinen, niedrigschwelligen Auftrittssituationen aussetzen
- Feedback annehmen, ohne es persönlich zu nehmen
- bessere Fragen stellen zu dem, was für das eigene Künstlersein wirklich zählt
Mit der Zeit wird Herausforderung nicht mehr als Bedrohung erlebt, sondern als Teil des Wachstums.
Abschließende Gedanken
Mit Stresssituationen umzugehen bedeutet nicht, die Nervosität auszuschalten. Es bedeutet, sich selbst so gut zu kennen, dass man Geist und Körper im richtigen Moment regulieren kann.
Es bedeutet, sich bewusst vorzubereiten, technisch, mental und körperlich.
Und es bedeutet, eine musikalische Identität aufzubauen, die unter Druck nicht zerbricht, sondern Ausdruckskraft gewinnt.
Diese Werkzeuge garantieren keine Perfektion. Aber sie helfen dir, wacher, bewusster und verbundener aufzutreten, statt vom Moment überwältigt zu werden.
Quellen:
https://www.verywellmind.com/coping-with-stress-using-self-soothing-skills-2797579
https://cardahealth.com/post/breathing-exercises-to-lower-heart-rate
https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2017.00874
https://www.peaksports.com/sports-psychology-blog/mental-toughness-in-pressure-situations/